Irgendwo in den bewaldeten Hügeln Kentuckys oder Ohios soll es sie geben: Silberminen, die einst den Shawnee gehörten und deren Reichtum so groß war, dass europäische Siedler und Schatzsucher seit über 200 Jahren danach suchen. Doch gefunden hat sie bis heute niemand. Die Geschichte der Shawnee-Silberminen ist mehr als eine simple Schatzlegende – sie erzählt von Begegnungen zwischen Kulturen, von Gier und Missverständnissen, und von der Frage, ob es überhaupt je Silber gab.
Die Ursprünge der Legende
Die Geschichte beginnt im 18. Jahrhundert, als französische und britische Händler erstmals von den Shawnee hörten, sie besäßen Zugang zu Silbervorkommen. Die Indizien schienen eindeutig: Shawnee-Krieger trugen manchmal Schmuck aus Silber, handelten mit silbernen Ornamenten und schienen eine Quelle des Metalls zu kennen, die sie sorgsam geheim hielten.
Für die europäischen Neuankömmlinge war das Grund genug, von versteckten Minen zu träumen. Berichte von Händlern und Siedlern mehrten sich, wonach die Shawnee regelmäßig mit Silber handelten, aber niemals den Ursprung preisgaben. Die Vorstellung, dass ein indigenes Volk über unerschlossene Bodenschätze verfügte, passte perfekt in die koloniale Fantasie vom unentdeckten Reichtum der Neuen Welt.
Was die Quellen berichten
Die frühesten dokumentierten Erwähnungen stammen aus den 1750er Jahren. Französische Pelzhändler am Ohio River berichteten von Shawnee, die mit silbernen Gegenständen auftauchten, deren Herkunft unklar blieb. Einige Händler behaupteten, die Shawnee hätten ihnen angedeutet, es gäbe „weiße Steine in den Hügeln“, die sie zu Silber verarbeiteten.
Nach dem Franzosen- und Indianerkrieg (1754-1763) nahm das Interesse zu. Britische Siedler, die ins Ohio-Tal vordrangen, hörten ähnliche Geschichten. Ein häufig zitierter Bericht stammt von Daniel Boone selbst, der angeblich von Shawnee-Silber gehört haben soll – allerdings sind diese Berichte aus zweiter Hand und historisch umstritten.
Die konkretesten Hinweise kamen von Gefangenen, die bei den Shawnee gelebt hatten. Mehrere ehemalige Gefangene berichteten nach ihrer Freilassung, sie hätten von Minen gehört oder sogar blindgefaltet dorthin geführt worden zu sein. Ein gewisser Jonathan Alder, der als Kind von den Shawnee adoptiert wurde und Jahre bei ihnen lebte, erwähnte später vage Andeutungen über Silbervorkommen – allerdings ohne präzise Ortsangaben.
Die Suche beginnt
Spätestens ab dem frühen 19. Jahrhundert, nachdem die Shawnee aus ihren angestammten Gebieten vertrieben worden waren, begann die systematische Suche. Schatzsucher durchkämmten Wälder in Kentucky, Ohio und Indiana. Sie folgten Karten, die angeblich von Shawnee stammten, oder Hinweisen aus mündlichen Überlieferungen.
Die Suchen konzentrierten sich auf mehrere Regionen: die Höhlen und Täler bei Lexington in Kentucky, die Hügel entlang des Ohio River und das Gebiet um den Scioto River in Ohio. Manche Schatzsucher gruben jahrelang, andere investierten ihr gesamtes Vermögen in Expeditionen. Einige behaupteten sogar, fündig geworden zu sein – doch niemals konnten sie ihre Funde belegen oder reproduzieren.
Eine der bekanntesten Geschichten rankt sich um die „Swift Silver Mine“, benannt nach einem gewissen John Swift, der um 1760 angeblich eine reiche Silbermine in Kentucky entdeckt und ausgebeutet haben soll. Swifts Tagebücher, die teilweise erhalten sind, beschreiben versteckte Schätze und Minen – doch niemand konnte seine Angaben je verifizieren. Viele Historiker gehen davon aus, dass Swift seine Geschichte erfunden oder stark ausgeschmückt hat.
Die Realität hinter dem Mythos
Geologisch ist die Sache kompliziert. Die Regionen, in denen die Shawnee lebten – Kentucky, Ohio, West Virginia – sind nicht für bedeutende Silbervorkommen bekannt. Die Gesteinsformationen dort enthalten hauptsächlich Kalkstein, Sandstein und Kohle. Silber kommt in diesen Gebieten allenfalls in mikroskopischen Spuren vor, nicht in abbaubaren Mengen.
Das wirft die Frage auf: Woher kam dann das Silber, das die Shawnee besaßen? Die wahrscheinlichste Erklärung ist Handel. Die Shawnee waren Teil eines weitverzweigten Handelsnetzwerks, das sich über den gesamten Kontinent erstreckte. Silber aus mexikanischen Minen gelangte über spanische Händler nach Norden, französische Pelzhändler brachten silberne Waren aus Europa, und andere indigene Völker handelten mit Metallen aus weit entfernten Regionen.
Es ist durchaus möglich, dass die Shawnee bewusst den Eindruck erweckten, sie hätten eigene Silberquellen. Das hätte ihnen Macht und Ansehen im Handel verschafft. Das Geheimnis zu wahren, war strategisch klug: Es hielt die Europäer interessiert, ohne dass man ihnen Zugang zu den eigentlichen Handelswegen gewähren musste.
Die Suche heute
Trotz aller Skepsis gaben die Schatzsucher nie auf. Bis ins 20. Jahrhundert hinein gab es immer wieder Expeditionen. Mit Metalldetektoren, Bodenradar und modernen Vermessungstechniken durchsuchten Hobbyarchäologen und Abenteurer die alten Regionen. Einige behaupteten, verschüttete Mineneingänge oder alte Werkzeuge gefunden zu haben – doch bei näherer Untersuchung entpuppten sich diese Funde meist als natürliche Höhlen oder moderne Relikte.
In den 1960er und 1970er Jahren erlebte die Legende eine Renaissance, befeuert durch Bücher und Zeitungsartikel. Schatzsucher-Clubs organisierten gemeinsame Grabungen, Privatpersonen kauften Land in vielversprechenden Gebieten. Doch niemand fand je etwas von Substanz.
Heute betrachten die meisten Historiker und Geologen die Shawnee-Silberminen als Folklore – als eine Mischung aus Missverständnissen, Wunschdenken und bewusster Irreführung. Die Shawnee selbst haben keine mündlichen Überlieferungen von Silberminen hinterlassen. Ihre Nachfahren, die heute hauptsächlich in Oklahoma leben, bestätigen, dass es in ihrer Kultur keine Tradition des Silberbergbaus gab.
Was bleibt
Die Geschichte der Shawnee-Silberminen sagt mehr über die Europäer aus, die danach suchten, als über die Shawnee selbst. Sie zeigt, wie koloniale Fantasien und Gier Legenden erschaffen konnten, die sich über Generationen hielten. Sie zeigt auch, wie indigene Völker ihre Handelsgeheimnisse schützten und die Vorstellungen der Europäer für ihre eigenen Zwecke nutzten.
Vielleicht liegt genau darin die wahre Geschichte: nicht in Minen, die niemand fand, sondern in der Klugheit eines Volkes, das verstand, dass Geheimnisse manchmal wertvoller sind als das, was sie verbergen. Die Shawnee brauchten keine Silberminen – sie hatten etwas Besseres: ein Handelsnetzwerk, diplomatisches Geschick und die Fähigkeit, Europäer mit ihren eigenen Träumen zu beschäftigen.
Ob jemals jemand das letzte Wort in dieser Geschichte sprechen wird, bleibt offen. Die Wälder Kentuckys und Ohios geben ihre Geheimnisse nicht leicht preis. Und vielleicht ist es besser so. Manche Legenden leben länger, wenn sie ungelöst bleiben.





