Du kennst die Römer, die Griechen, vielleicht sogar die Kelten. Aber hast du schon einmal von den Illyrern gehört? Dieses Volk beherrschte jahrhundertelang die Ostküste der Adria und gab selbst Rom ordentlich Kopfzerbrechen. Ihre Geschichte ist voller Überraschungen – und zeigt, wie ein ganzes Volk aus den Geschichtsbüchern verschwinden kann.
1. Ein Volk, das es eigentlich gar nicht gab
Die Illyrer waren nie ein einheitliches Volk. Der Name fasst verschiedene Stämme zusammen, die zwischen dem 8. Jahrhundert vor Christus und dem 2. Jahrhundert nach Christus auf dem westlichen Balkan lebten. Von den Liburni an der kroatischen Küste bis zu den Dardani im heutigen Kosovo – sie alle galten als Illyrer.
Die Römer prägten diese Bezeichnung. Für sie war jeder, der östlich der Adria lebte und nicht griechisch sprach, ein Illyrer. Das ist, als würde man heute alle Europäer einfach „Europäer“ nennen und dabei Deutsche, Franzosen und Italiener in einen Topf werfen.
Diese verschiedenen Stämme teilten ähnliche Sprachen, Bräuche und eine Leidenschaft: die Seeräuberei. Doch politisch geeint waren sie nie – was ihnen später zum Verhängnis wurde.
2. Piraten, die Könige das Fürchten lehrten
Die illyrischen Seeräuber waren der Schrecken der Adria. Ihre schnellen Schiffe, die Liburnen, jagten Handelsschiffen nach und plünderten ganze Küstenstädte. Selbst die mächtigen Griechen und Römer konnten ihnen lange nichts anhaben.
Königin Teuta machte die Piraterie im 3. Jahrhundert vor Christus zur Staatsangelegenheit. Als römische Gesandte sich über die Überfälle beschwerten, soll sie geantwortet haben: „Es ist nicht Sitte der Illyrer, ihre Bürger daran zu hindern, auf dem Meer Beute zu machen.“
Diese königliche Frechheit kostete sie schließlich die Macht. Rom erklärte den ersten Illyrischen Krieg, der 229 vor Christus begann. Teuta musste kapitulieren und auf die Piraterie verzichten – zumindest offiziell.
3. Frauen an der Macht, als das anderswo undenkbar war
Die illyrische Gesellschaft war für antike Verhältnisse erstaunlich fortschrittlich, was Frauen anging. Mehrere Königinnen regierten eigenständig, nicht nur als Witwen ihrer Männer.
Nach Teuta kam Demetrios von Pharos an die Macht, doch auch er scheiterte an Rom. Danach herrschte wieder eine Frau: Königin Eurydike regierte die Ardiäer im 2. Jahrhundert vor Christus. Sie führte Kriege, schloss Verträge und prägte sogar eigene Münzen – zu einer Zeit, als römische Frauen nicht einmal erben durften.
Diese Gleichberechtigung spiegelte sich auch in der Religion wider. Illyrische Frauen konnten Priesterinnen werden und genossen gesellschaftliches Ansehen. Das war selbst für die „aufgeklärten“ Griechen ungewöhnlich.
4. Soldaten, die Rom zu schätzen lernte
Nachdem Rom die illyrischen Königreiche erobert hatte, machte es das Beste aus der Situation: Es rekrutierte die besten Krieger für seine eigenen Armeen. Illyrische Soldaten galten als besonders tapfer und loyal.
Kaiser Diokletian, der das Römische Reich im 3. Jahrhundert nach Christus reformierte und teilte, stammmt aus Dalmatien – aus illyrischem Gebiet. Sein Palast in Split steht noch heute und zählt zum Weltkulturerbe.
Auch andere Kaiser hatten illyrische Wurzeln: Konstantin der Große, der das Christentum zur Staatsreligion machte, wurde in der heutigen Serbien geboren. Eine beachtliche Karriere für die Nachkommen von Seeräubern.
5. Eine Sprache, die Rätsel aufgibt
Die illyrische Sprache ist bis heute ein Mysterium. Nur wenige Inschriften und Wörter sind überliefert, meist Namen von Personen und Orten. Forscher diskutieren noch immer darüber, ob das Illyrische eine einzige Sprache war oder mehrere verwandte Dialekte.
Einige Wörter leben jedoch weiter: Der Name „Drino“ für einen Fluss in Albanien geht auf das illyrische Wort für Hirsch zurück. Auch in anderen Balkansprachen finden sich noch Spuren.
Die Albaner behaupten gerne, direkte Nachfahren der Illyrer zu sein. Sprachwissenschaftler sind skeptisch, aber die Theorie hält sich hartnäckig. Fest steht: Irgendwo in den Bergen des Balkans überlebten Reste der alten Kultur.
6. Burgen, die Zeit und Feinde trotzten
Die Illyrer waren Meister des Festungsbaus. Ihre Oppida – befestigte Siedlungen auf Berghöhen – waren fast uneinnehmbar. Massive Steinmauern schlossen sich an natürliche Felsbarrieren an.
Die Ruinen von Daorson in Bosnien-Herzegowina zeigen, wie raffiniert diese Anlagen waren. Mehrstöckige Mauern mit ausgeklügelten Torsystemen trotzten jahrhundertelang jedem Angreifer. Erst die römischen Belagerungsmaschinen knackten diese Nüsse.
Viele dieser Festungen blieben bis ins Mittelalter bewohnt. Die Bauweise war so durchdacht, dass spätere Völker einfach auf den illyrischen Fundamenten weiterbauten. Archäologen finden dort Schicht um Schicht verschiedene Kulturen – wie in einem steinernen Geschichtsbuch.
7. Ein Vermächtnis in Bronze und Stein
Die Illyrer hinterließen beeindruckende Kunstwerke, auch wenn viele davon in Museen zerstreut oder noch gar nicht entdeckt sind. Bronzene Helme mit kunstvollen Verzierungen, Schmuck aus Gold und Silber, filigrane Fibeln – ihre Handwerker beherrschten ihr Fach.
Besonders berühmt sind die illyrischen Helme. Sie kombinieren Schutz mit Ästhetik: Bronzene Kämme, ornamentale Muster und praktische Details zeigen eine Kultur, die Krieg und Kunst gleichermaßen schätzte.
In Trebenište in Nordmazedonien fanden Archäologen ein Fürstengrab aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Goldene Masken, importierte griechische Keramik und lokale Bronzearbeiten lagen dort beisammen. Der Tote war offenbar reich und mächtig – und er war stolz darauf, Illyrer zu sein.
Das Erbe eines vergessenen Volkes
Die Illyrer verschwanden nicht über Nacht. Sie wurden römisch, dann byzantinisch, später slawisch. Ihre Identität löste sich in anderen Kulturen auf, wie Salz im Wasser.
Doch ihr Erbe lebt weiter: in den Steinen alter Festungen, in den Namen von Bergen und Flüssen, in den Genen der heutigen Balkanbewohner. Sie zeigen uns, dass Geschichte nicht nur von den Siegern geschrieben wird – manchmal überlebt sie auch in dem, was sie hinterlassen.
Die Illyrer waren keine Fußnote der Geschichte. Sie waren Akteure auf der großen Bühne der Antike, die ihre eigenen Regeln schrieben – bis Rom andere Pläne hatte. Ihre Geschichte erinnert uns daran, dass auch kleine Völker große Spuren hinterlassen können, selbst wenn ihr Name in Vergessenheit gerät.





