Die Heilige Lanze – Mythos, Fakten, Fälschungen

Nahaufnahme einer verzierten, antiken Lanze, bei der es sich vermutlich um die Heilige Lanze handelt. Sie ist mit kunstvollen Schnitzereien versehen und wird in einem Museum vor einem gerahmten Kunstwerk mit floralen Mustern ausgestellt, das sanft beleuchtet ist, um die historischen Details hervorzuheben.

Die Waffe, die Christus am Kreuz durchbohrte, soll Kaisern die Weltherrschaft verliehen haben. Aber welche Lanze ist echt? Und warum jagten Herrscher jahrhundertelang einem Stück Eisen hinterher?

Die Legende vom mächtigsten Artefakt der Christenheit

Im Jahr 1098 lag die Lage für die Kreuzfahrer aussichtslos. Eingeschlossen in der Stadt Antiochia, ohne Nachschub, dezimiert durch Hunger und Krankheit. Da hatte ein einfacher Mönch namens Peter Bartholomäus eine Vision: Der heilige Andreas zeigte ihm, wo die Lanze vergraben lag, mit der einst die Seite Christi durchstochen wurde. Man grub in der Kathedrale – und fand tatsächlich eine Lanzenspitze.

Die Moral der Truppe explodierte. Wenige Tage später stürmten die Kreuzfahrer aus der belagerten Stadt und schlugen ein weit überlegenes muslimisches Heer in die Flucht. War es die Kraft der Reliquie? Oder einfach die Macht des Glaubens?

Diese Frage begleitet die Heilige Lanze durch ihre gesamte Geschichte. Denn was in Antiochia gefunden wurde, war nur eine von mehreren Lanzen, die alle beanspruchten, die echte zu sein.

Was sagen die Quellen?

Die biblische Grundlage ist dünn. Nur das Johannes-Evangelium erwähnt die Lanze überhaupt: Ein römischer Soldat durchsticht die Seite des bereits toten Jesus, um seinen Tod zu bestätigen. Kein Name wird genannt, keine besondere Bedeutung zugeschrieben.

Erst später erhält dieser namenlose Soldat einen Namen: Longinus. Aus ihm macht die Legende einen reuigen Sünder, der durch das Blut Christi von seiner Blindheit geheilt wird und sich bekehrt. Die Lanze wird zum Symbol der Erlösung – und zur mächtigsten Reliquie der Christenheit.

Doch hier beginnt bereits das Problem: Es gibt nicht eine Heilige Lanze. Es gibt mindestens vier.

Die Wiener Lanze – Reichskleinod der deutschen Kaiser

Die berühmteste ist die Wiener Lanze, heute in der Schatzkammer der Hofburg ausgestellt. Sie besteht aus einer Eisenspitze, in die ein Nagel eingearbeitet ist – angeblich einer der Nägel vom Kreuz Christi. Silberne Bänder halten das Ganze zusammen, und auf einem goldenen Manschettenband steht: „Lancea et clavus Domini“ – Lanze und Nagel des Herrn.

Otto I. ließ sich 962 mit dieser Lanze zum Kaiser krönen. Von da an gehörte sie zu den Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reiches. Jeder neu gewählte König musste sie in Händen halten, um legitim zu sein. Friedrich Barbarossa trug sie in Schlachten mit sich. Karl IV. ließ sie in Prag verwahren wie einen Staatsschatz.

Die Botschaft war klar: Wer die Lanze besitzt, dem gehört die Macht über das christliche Abendland.

Doch schon im Mittelalter gab es Zweifel. Die Form der Lanzenspitze deutet auf das 8. Jahrhundert hin, also rund 700 Jahre nach Christus. Der eingearbeitete Nagel könnte älter sein, aber selbst das lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen.

Die Lanze von Antiochia – Fundstück oder Fälschung?

Zurück nach Antiochia, 1098. Die dort gefundene Lanze wurde zum Feldzeichen der Kreuzfahrer. Aber schon damals zweifelte man an ihrer Echtheit. Der päpstliche Legat hielt sie für eine Fälschung. Peter Bartholomäus, der Finder, unterzog sich schließlich einer Feuerprobe, um die Echtheit zu beweisen – und starb an den Verbrennungen.

Die Lanze verschwand danach aus den Aufzeichnungen. Möglicherweise wurde sie verloren, möglicherweise versteckt. Was blieb, war der Mythos: Eine Reliquie, die ein Wunder wirkte und dann ebenso mysteriös verschwand, wie sie aufgetaucht war.

Die armenische und die vatikanische Lanze

In Etschmiadsin in Armenien wird eine weitere Lanzenspitze aufbewahrt. Sie soll von einem Apostel dorthin gebracht worden sein. Ihre Geschichte ist weniger spektakulär, aber die armenische Kirche hält sie bis heute in Ehren.

Der Vatikan besitzt ebenfalls eine Lanzenspitze. Sie wurde im 18. Jahrhundert vom osmanischen Sultan als Geschenk geschickt und wird in einem der vier Hauptpfeiler des Petersdoms aufbewahrt. Anders als die Wiener Lanze macht Rom allerdings keine bombastischen Echtheitsbeanspruchungen mehr. Man zeigt sie, man ehrt sie – aber man legt sich nicht fest.

Hitler und die Lanze – moderner Mythos

Im 20. Jahrhundert erfand die NS-Propaganda eine neue Legende: Hitler soll als junger Mann in Wien von der Lanze fasziniert gewesen sein und sie nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach Nürnberg bringen lassen. Die okkulte Macht der Reliquie hätte ihm den Aufstieg ermöglicht – und ihr Verlust am Ende den Untergang besiegelt.

Diese Geschichte ist größtenteils erfunden, vor allem durch esoterische Autoren der 1970er Jahre. Richtig ist, dass die Reichskleinodien tatsächlich von Wien nach Nürnberg kamen. Aber das war keine mystische Besessenheit, sondern schlichte Propaganda: Das „Tausendjährige Reich“ sollte an das mittelalterliche Reich anknüpfen.

Die US-Army fand die Lanze 1945 in einem Nürnberger Bunker. Sie wurde nach Wien zurückgebracht. Kein magisches Ritual, keine mysteriösen Ereignisse – nur Bürokratie und Rückführung geraubter Kulturgüter.

Was bleibt?

Keine der erhaltenen Lanzen lässt sich wissenschaftlich auf die Zeit Jesu datieren. Die Wiener Lanze ist mittelalterlich, die anderen noch jünger oder nicht untersucht. Historisch gesehen sind sie Fälschungen – oder bestenfalls fromme Nachbildungen.

Aber vielleicht ist das auch der falsche Maßstab. Die Macht der Heiligen Lanze lag nie in ihrer materiellen Echtheit. Sie lag darin, dass Menschen bereit waren, daran zu glauben. Kaiser legitimierten ihre Herrschaft damit. Kreuzfahrer siegten mit ihr im Gepäck. Pilger beteten davor.

Die Lanze ist ein Zeugnis dafür, wie eng Politik und Religion im Mittelalter verwoben waren. Sie zeigt, wie Mythen entstehen und wie sie genutzt werden – von frommen Mönchen ebenso wie von machthungrigen Herrschern.

Und sie erinnert daran, dass Symbole eine eigene Realität erschaffen können. Ob die Lanzenspitze in Wien je einen römischen Soldaten in Händen hielt oder nicht: Für die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war sie echt genug, um darauf ihre Macht zu gründen.

Das ist die eigentliche Geschichte der Heiligen Lanze. Nicht die eines antiken Artefakts, sondern die einer Idee, die tausend Jahre lang Europa prägte. Eine Idee von Macht, Legitimität und göttlichem Auftrag – eingeschmiedet in ein Stück Eisen.

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Roberts & Maclay

Aus der Feder von Roberts & Maclay stammen nicht nur die täglichen History Snacks, sondern auch erfolgreiche Bestseller-Buchserien wie die „Tom Wagner Abenteuer“ und die „François Cloutard Coups“.